"Krieg - Stell dir vor er wäre hier" - Klassenzimmertheater für die 6. Klassen
Als sich die Tür der Klasse öffnet, sind der Lärm und der Trubel, die zuvor noch herrschten, wie verflogen und alle warten gespannt darauf, wer jetzt gleich die Klasse betreten wird. Doch niemand rechnet mit einem Mann mit Rucksack und Koffer, dessen Gesicht von einer Gasmaske verdeckt ist. Um seinen Hals hat er einen Luftballon mit dem Aufdruck der Erde gebunden.
Er spricht nicht, sieht uns einfach nur an und niemand weiß, was jetzt kommt, packt eine Ziehharmonika aus und beginnt darauf zu spielen. Es sind einfache, aber schöne Melodien. An seinen Händen und seinem Körperbau kann man erkennen, dass es sich um einen relativ jungen Mann handelt, doch sein Gesicht haben wir noch immer nicht gesehen. Als er aufhört zu spielen, sucht er verzweifelt, fast schon hysterisch einen Ausgang, bis er schließlich die Tür findet, aber es so erscheinen lässt, als sei sie verschlossen. Dann zieht er sich die Maske vom Gesicht.
„Hallo alle zusammen! Ich bin Yannick Zürcher und das war natürlich alles nur Schauspielerei.“ Er gibt einigen von uns die Hand. Und dann beginnt er mit der Geschichte des Buches „Krieg - stell dir vor, er wäre hier“. Wir sollten uns vorstellen, bei uns wäre Krieg, alles würde zerbombt, die Großeltern wären gestorben, die Schwester mit Granatsplittern im Kopf im Krankenhaus, die Mutter schwer krank. Wir müssten fliehen.
In der Geschichte flüchteten wir nach Ägypten in ein total überfülltes Flüchtlingslager. Yannick bezieht uns dabei alle mit in die Geschichte ein, es wirkt real, auch wenn wir im Klassenzimmer sitzen. Als er zum Beispiel ein altes, zerknittertes Tagebuch hervorzieht und daraus zu lesen beginnt, habe ich das Gefühl, es wären meine selbst geschriebenen Zeilen. Er lässt uns die Euphorie fühlen, als wir im Zeltlager ankommen und wir uns nicht mehr fürchten müssen und wir nicht mehr frieren.
Und später die schreckliche Langeweile. Immer und immer wieder wirft Yannick einen Tennisball an die Wand und fängt ihn wieder. Wir können weder arbeiten noch zur Schule und haben ständig das Gefühl, hier nicht herzugehören. Um seinen Frust zu verdeutlichen, stürmt der Schauspieler aus der Klasse in den Gang und schreit so laut, dass es bestimmt die ganze Schule gehört haben muss.
Als wir später im Süden Ägyptens endlich Asyl bekommen, müssen wir unsere Freundschaften wieder aufgeben und noch einmal von vorne anfangen. Nur Karina, eine alte Schulfreundin, ist noch bei uns. Doch die Ägypter lassen uns immer spüren, dass wir hier Fremde sind. Sie behandeln uns anders als die anderen Einheimischen. Yannick beißt in einen Muffin und erzählt, wie wir anfangen Kuchen zu backen und zu verkaufen. Wir lernen Arabisch.
Nach zwei Jahren stirbt der große Bruder und die kleine Schwester verliebt sich in einen 37-jährigen Ägypter, wird schwanger von ihm und konvertiert zum Islam. Ihre Eltern schicken sie zurück nach Hause, wo der Krieg mittlerweile vorbei ist. Der 37-jährige Ägypter fährt nach Deutschland, um sich sein Kind zurückzuholen Es ging uns zum Schluss zwar gut, doch jeden Tag mussten wir darüber nachdenken, wann wir nach Hause zurückkehren. Doch welches Zuhause eigentlich?
Die Geschichte hat uns alle so gefesselt, dass wir danach noch bis in die nächste Unterrichtsstunde Fragen an den Schauspieler Yannick Zürcher stellen. Obwohl „Krieg - stell dir vor, er wäre hier“ 2001 verfasst wurde, trifft es momentan so gut zu, dass man meinen könnte, es wäre gestern geschrieben worden. (Juliana Canaval, 6ai)